Die Schrift ist das große Symbol der Ferne, also nicht nur der Weite, sondern auch und vor allem der Dauer, der Zukunft, des Willens zur Ewigkeit. Sprechen und Hören erfolgt nur in Nähe und Gegenwart; durch die Schrift redet man aber zu Menschen, die man nie gesehen hat oder die noch nicht geboren sind, und die Stimme eines Menschen wird noch Jahrhunderte nach seinem Tode gehört. (O. Spengler)


Runen - Tradition & Interpretation
Dr. Kay Busch, Nordische Philologie

(Dieses Traktat ist ursprünglich im Zusammenhang mit der Wiederveröffentlichung des Klangwerkes "Runen" von Voxus Imp. auf Mjölnir Tonkunst erschienen.)

Interpretation der Runen ist so alt wie ihre Existenz, deren Ursprung nach wie vor im Dunkeln liegt. Die gelehrte Welt hat sich lange gestritten, ob die Runen eine germanische Erfindung sind oder nach dem Vorbild des griechischen oder gar lateinischen Alphabetes entstanden. Seit einiger Zeit ist man der Ansicht, daß die älteste bekannte Runenreihe, nach den Lautwerten ihrer ersten sechs Zeichen auch als älteres Futhark bezeichnet, im Alpenraum unter dem Einfluß des etruskischen Alphabetes entstand. Endgültig bewiesen ist aber auch diese These nicht. Die ältesten Runenritzungen, die uns überliefert sind, werden auf das dritte nachchristliche Jahrhundert datiert. Gemäß des allgemein anerkannten Schriftentwicklungsschemas lagen die Anfänge unserer heutigen abstrakten Alphabetschriften in simplen Bildersprachen, aus denen sich stilisierte Bilder, die sogenannten Ideogramme, entwickelten. Diese Ideogramme hatten, wie die vorausgegangenen Bilder, Symbolcharakter, aber auch Laut- und/oder Zahlwerte und bildeten die Vorstufe unserer Buchstaben. Die älteste Runenreihe stand eindeutig auf der Entwicklungsstufe der Ideogramme, ganz im Gegensatz zu den weiterentwickelten Alphabeten der Griechen oder Römer. Während z.B. die lateinischen Buchstaben ausschließlich über einen Zahl- und Lautwert verfügten, hatten die einzelnen Runen noch sprechende Namen und eine lebendige Symbolstruktur. Die Kunst des Runenritzens war wenigen Eingeweihten, den heute so genannten Runenmeistern, vorbehalten und somit eine Tradition mit einem geheimnisvollen Charakter. Schon das bloße Vorzeigen von Runen muß auf den Uneingeweihten einen magischen Eindruck hinterlassen haben. So kann man auch nachvollziehen, daß viele der Inschriften im älteren Futhark keinen sprachlichen Sinn ergeben, sondern meist nur eine Anreihung von Zeichen sind. Auf einigen Inschriften kann man nur futhark lesen.

Die wohl bekannteste Inschrift war auf einem der (1802 leider eingeschmolzenen) Goldhörner von Gallehus (Dänemark) zu lesen und lautet auf urnordisch: ek HlewagastiR HoltijaR horna tawido (Ich Hlewagast Sohn des Holti machte das Horn). Dieser älteste überlieferte Stabreimvers wird auf den Beginn des 5. Jahrhunderts datiert. Die darauf folgende Periode (6.-8. Jh.) ist von vielfältigen Wandlungen geprägt. Die südgermanischen Stämme einschließlich der Sachsen wurden auf recht nachhaltige Weise zwangschristianisiert, was ein Verbot der heidnischen Schriftzeichen einschloß, deren Gebrauch sich von nun an auf den germanischen Norden beschränkte. Dort entwickelte sich zu diesem Zeitpunkt die einstmals gemeinsame urnordische Sprache hin zu mehreren Sprachgruppen, aus denen später die skandinavischen Nationalsprachen entstanden. Damit gemeinsam vollzog sich die Wandlung des älteren zum jüngeren Futhark, welches wiederum von verschiedenen Runenreihen repräsentiert wurde, denen die Reduzierung auf ca. 16 Zeichen gemeinsam war. Weiterhin ging diese Entwicklung mit einer Profanisierung der germanischen Schrift einher, die von nun an im allgemeinen nur noch für einfache und austauschbare Texte, wie z.B. Grabinschriften, benutzt wurde. Sprachdenkmäler der Übergangszeit (z.B. der Stein von Rök) bezeugen diese Wandlungen. Das jüngere Futhark in seiner 16-Zeichen-Form war die gesamte Wikingerzeit (8.-11. Jh.) über in Gebrauch. Tausende von Runensteinen aus dieser Zeit sind in Skandinavien erhalten. Um die erste Jahrtausendwende herum hielt das Christentum auch bei den harten Wikingern Einzug. Obwohl das in einer moderateren Form geschah als im südgermanischen Raum und heidnische und christliche Kultur geraume Zeit nebeneinander existierten, eroberte die lateinische Schrift die altnordische Literatur und wurde den besonderen sprachlichen Gegebenheiten angepaßt, wie verschiedene grammatische Abhandlungen und andere Handschriften belegen.

Die Runen wurden mehr und mehr verdrängt, weil die beschränkte Zahl der Zeichen naturgemäß keine schriftliche Darstellung einer literarischen Hochsprache erlaubte. Auch die Anpassung des jüngeren Futharks an das lateinische Alphabet mit Hilfe von Sonderzeichen konnte die lateinische Schrift nicht mehr verdrängen. Es ist aber belegt, daß die Runenschrift zumindest einen Teil des Alltagsschriftverkehrs in Skandinavien abdeckte. Runenbriefe oder Notizen, in kleine Holztäfelchen geritzt, waren nachweislich vom 12.-14. Jh. im Umlauf. Der sogenannte Runenfund von Bergen, der in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht wurde, umfaßt viele kleine Holzstücke, die profane Inschriften enthalten und größtenteils besitzanzeigend sind, wie z.B. Sigmund besitzt (diesen Sack) oder (dieser Kochlöffel) gehört Sigrun. Es finden sich aber auch obszöne Briefe oder Kaufmannsrechnungen darunter. Runenhandschriften auf Papier oder Pergament wie die Gesetzesschrift Codex Runicus aus Schonen (um 1300) oder ein Text mit einer Marienklage (Mariaklagan vid korset) sind uns zwar überliefert, waren jedoch aufgrund des teuren Schreibmaterials selten in Gebrauch. Auch die Bedeutung der Runen als Ideogramm bzw. Symbol kursierte weiterhin, wenn auch in untergeordneter Form und mit angepaßten Inhalten. So fühlte sich wahrscheinlich der ein oder andere, der zwar um des lieben Friedens willen die Lehre Christi angenommen hatte, aber innerlich unbelehrbar war, wohler, wenn er heimlich seine Runen in die Tür oder Bank der örtlichen Kirche schnitt und damit seinen eigentlichen Göttern die Treue bekundete. So manches Runensgraffiti kündet in norwegischen Stabkirchen von diesem Glaubenszwiespalt. Doch diese letzte Hochzeit der Runenschrift währte nicht lange. Der Handelsverkehr mit vielen Teilen der damals bekannten Welt, der über die Hanse auch Skandinavien erreichte, und natürlich der Einfluß der Kirche, ließen selbst den profanen Gebrauch der Runen immer mehr verschwinden, weil er ausschließlich in Skandinavien verbreitet und damit auch nur dort verständlich war.

Das lateinische Alphabet setzte sich in allen Lebenslagen durch. In den folgenden Jahrhunderten fiel der praktische Gebrauch der Runen dem Vergessen anheim. Nur in abgelegenen ländlichen Gegenden, wo sich Gebräuche hartnäckiger halten als anderswo, blieben Reste davon erhalten. Diese Reste beinhalteten aber bei weitem nicht den Gebrauch der Runen als Schrift, sondern beschränkten sich auf die Nutzung als Symbole, Zeichen oder auch Zahlen wie z.B. auf den sogenannten Runenkalendern. Bevor jedoch die Tradition der Runen vollständig zum Erliegen kam, begannen sich die erwachenden Wissenschaften dafür zu interessieren. Der schwedische Gelehrte Johannes Magnus veröffentlichte in seinem 1554 posthum erschienen Werk Historia de omnibus gothorum sveonumque regibus erstmals eine Runenreihe, ein sogenanntes alphabetum gothicum. Der Geist der Renaissance gelangte in den Norden und veranlaßte die dortigen Gelehrten, sich mit einheimischen Altertümern zu beschäftigen. Genau wie die Italiener das antike Rom zum Gegenstand ihrer Betrachtungen machten, suchten die Skandinavier ein Pendant und fanden es in den geheimnisumwitterten Goten und ihren Staatengründungen. Das erwachende Nationalgefühl führte außerdem dazu, daß sich die einzelnen Staaten um die Rechte an diesen Ahnen und damit auch an deren vermeintlichen Schrift, den Runen, stritten. Hierbei taten sich besonders Dänemark und Schweden als nordische Erzrivalen hervor. Auf dänischer Seite war es der Arzt und Universalgelehrte Ole Worm, der erste gelehrte Schritte in Sachen Runenforschung unternahm und u.a. in seinen Publikationen Fasti danici (1626) und Danica monumenta (1643) publizierte. Es war allerdings sein schwedischer Konkurrent Johannes Bureus, der schon seit den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts Runenforschung betrieb und zumindest von schwedischer Seite als Vater der Runenforschung angesehen wird, dem die ersten gelehrten Betrachtungen über Runen zu verdanken sind.

1599 erschien sein Runakenslanes läraspan, eine Kupferstichtafel mit Runentabellen und Abbildungen von Inschriften, 1611 in königlichem Auftrag das erste Runenlehrbuch Rvna ABC-boken und 1624 die Inschriftensammlung Monumenta sveo-gothica hactenus exsculpta, gefolgt von weiteren Schriften und Traktaten. Alle diese frühen Schriften sind trotz ihres gelehrten Charakters mit heutigen wissenschaftlichen Abhandlungen nicht zu vergleichen. Es standen keinerlei historische bzw. sprachwissenschaftliche Grundlagen zur Verfügung, und die Pioniere um Bureus mußten ihr gesamtes Forschungsmaterial selbst zusammentragen. Außerdem war Bureus Kabbalist und Anhänger der Schriften des Christian Rosenkreuz, was die Entstehung seiner Runenschriften eigentlich erst motivierte und sich in ihnen auch recht deutlich niederschlug. Wenn heute von runischer Zahlenmystik oder ähnlichen esoterischen Phänomenen die Rede ist, kann man fast sicher sein, daß die betreffenden Theorien bei Bureus ihren Anfang nahmen. Ähnliche Blüten trieb der Streit zwischen Dänemark und Schweden an den gotischen Ahnen und deren Schrift. Besonders in Schweden war nach dem Sieg im Dreißigjährigen Krieg und dem Aufstieg zur Großmacht der Drang groß, auch in kultureller Bedeutung an Frankreich und Italien aufzuschließen. Der schwedische Universalgelehrte Olof Rudbeck schuf mit seinem Monumentalwerk Atlantica ein Paradebeispiel für diesen auf die Spitze getriebenen schwedischen Patriotismus. Die Hauptthese seiner gelehrten Ausführungen besteht in der Aussage, daß Schweden mit dem sagenhaften Atlantis identisch sei und die alte sveo-gotische Schrift, die Runen, die Urschrift der Menschheit seien. Darüber ließe sich grundsätzlich streiten, aber die von Rudbeck ins Feld geführten Argumentationen und "Beweise" sind derartig hanebüchen, daß sie schon zu seinen Lebzeiten besonders im Ausland lebhaft angezweifelt und gar belächelt wurden. Dessen ungeachtet hielten sie sich lange in den Köpfen und tauchen auch heute noch unter der Rubrik ex nocte lux immer wieder auf.

Im Zuge dieses schwedischen Gotizismus' entstanden auch Fälschungen, welche dazu gedacht waren, die fehlenden echten Beweise zu ersetzen. So tauchte in Uppsala im Jahr 1690 eine in Runen geschriebene Saga auf, die in den darauf folgenden Jahren mehrmals verlegt wurde. Später stellte sich heraus, daß die Hjalmars och Hramers Saga ein sowohl handwerklich als auch sprachlich schlecht gemachtes Plagiat war, welches höchstwahrscheinlich aus dem Gelehrtenkreis um Olof Rudbeck stammte. Mit dem Niedergang Schwedens als Großmacht und der beginnenden Epoche der Aufklärung wurden auch die bisherigen Erkenntnisse über die Runen von einer neuen und im wissenschaftlichen Sinne kritischen Generation von Gelehrten hinterfragt und neu systematisiert. Vor allem das Alter der verschiedenen Runenreihen und ihre historische Abfolge waren Streitpunkt verschiedener Gelehrtenzwiste, von denen wohl der zwischen den Schweden Erik Julius Biörner und Olof Celsius, welcher sich 1726/27 um die stablosen Hälsingrunen drehte, am bekanntesten und von mehreren Veröffentlichungen beider Seiten begleitet wurde. Doch trotz vielfältiger Bemühungen fehlten einfach weiterhin die sprachwissenschaftlichen Grundlagen für eine lückenlose Aufarbeitung, und so blieb vieles ungeklärt und mysteriös. Dieser Rest von Mythos war es auch, der die Runen während der Romantik vor allem in Skandinavien so präsent machte. Sie wurden als Überbleibsel einer nebulösen Vergangenheit zum Gegenstand der Künste und damit auch jedermann ein Begriff. Die verklärten Ansichten der Romantiker trugen aber auch viel dazu bei, falsche bzw. überholte Vorstellungen vom nordischen Altertum zu verbreiten. Genau so, wie es die bei den Romantikern so beliebten Hörnerhelme der Wikinger in Wirklichkeit nicht gegeben hatte, bedienten auch Runenzauber und runisches Geheimwissen romantische Klischees und waren auf Halbwissen aufgebaut. Andererseits führte die allseitige Beschäftigung mit den historischen und sprachlichen Wurzeln während und nach der Romantik zur Entstehung der Sprachwissenschaften.

Auf deutschem Gebiet waren es die Gebrüder Grimm, die in Korrespondenz mit skandinavischen Gelehrten viel mühsame Grundlagenarbeit zur Runenkunde leisteten. Nicht nur die Runen mußten als historische Zeichensysteme kategorisiert werden, sondern vor allem die dahinter verborgenen alten Sprachen waren zu entdecken und zu unterscheiden. Wie alt eine Runenschrift genau war, ließ sich von da an anhand der Spracheigenschaften recht exakt feststellen. Die in kultureller und politischer Hinsicht wahrscheinlich bedeutendste Errungenschaft war jedoch die Prägung des Begriffes der germanischen Sprachen. Die Bezeichnung Germanen, welche seit den Römern als ein nicht exakter Sammelbegriff für die jenseits des Rheines lebenden Stämme angewandt wurde, bekam einen neuen Inhalt und wurde zum einem Identifikationsbegriff. Spätestens ab hier, dem ausgehenden 19. Jahrhundert, hätte man annehmen können, daß die wissenschaftliche Offenlegung der historischen Verbreitung der Sprachen auch den Mythos der Runen gegenstandslos gemacht habe. Doch während die germanischen Sprachen in ihren lebendigen Formen wie deutsch, schwedisch, dänisch, norwegisch, isländisch, niederländisch, färöisch und englisch eine alltägliche Erscheinung waren und deshalb wenig geheimnisvoll anmuteten, blieben die Runen als tote Schrift zusammen mit den alten germanischen Sprachen, die sie verkörperten, im Dunkel der Vergangenheit. Sie waren nur wenigen Interessierten, die in der Lage waren, sich die notwendige einschlägige Bildung anzueignen, in ihrer Bedeutungsvielfalt zugänglich. Für die meisten aber blieb diese alte Schrift nach wie vor in einem romantischen Verständnis geheimnisumwoben. Mit ihren anderen Merkmalen, wie z.B. der Tradition, der im Gegensatz zur stets präsenten griechisch-römischen Antike exotisch-germanischen Herkunft und nicht zuletzt der seit Bureus untergeschobenen okkulten Funktion, nahm sie immer mehr den Charakter eines esoterischen Kleinodes an.

Vor allem Künstler und intellektuelle Außenseiter mit Absonderungsambitionen entdeckten sie als brauchbares Objekt. Eine weitere Entrückung von einem logischen Verständnis brachten die Musikdramen Richard Wagners, der seine Themen aus dem germanischen Altertum zwar ohne Zweifel künstlerisch meisterhaft und beispiellos umsetzte, aber keinesfalls zu einer Klärung der romantischen Wirrungen beitrug, sondern bestenfalls eine allgemeine und unbestimmte Germanophilie unterstützte. Diese Germanophilie, welche im deutschnationalen Hochgefühl nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung im Jahr 1871 einen ungeahnten Auftrieb bekommen hatte, war in der wilhelminischen Zeit ein guter Nährboden für das Entstehen von Personenkreisen und Bünden unterschiedlichen Charakters, von denen sich einige durchaus der Runen als Symbole bedienten. Hier ist vor allen anderen Guido von List zu nennen. Sein 1908 in Wien erschienenes Heftchen Das Geheimnis der Runen gibt einen repräsentablen Querschnitt seiner, moderat ausgedrückt, eigenwilligen Ansichten von Runen und deren Tradition. Hierbei ist unbedingt zu bedenken, daß die den Runen beigemessenen Interpretationen zum großen Teil nicht ihrer eigentlichen Tradition bis zum Beginn der Neuzeit entsprechen, sondern in den meisten Fällen auf jüngere Ausdeutungen zurückgehen, auf die weiter oben schon eingegangen worden ist. Besonders die esoterischen Spielarten, die in überspitzten Fällen in Geheimbündelei mündeten, lassen sich meist mehr oder weniger eindeutig auf Bureus' Wurzeln zurückführen, währenddessen die intellektuellen Spielarten, denen meist die atlantische These gemeinsam war, unverhohlen vom rudbeckschen Geist beseelt waren. Diese Grundlagen paarten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den verschiedensten theosophischen, rassischen, nationalistischen oder sonstigen weltanschaulichen Ansichten und Thesen.

Nach dem verlorenen I. Weltkrieg, der Novemberrevolution, dem unerfüllbaren Versailler Friedensdiktat und den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Wirrungen konnte es nicht ausbleiben, daß sich selbst der harmloseste dieser völkischen Vereine in irgendeiner Form politisierte oder politisiert wurde. Das führte mitunter zu grotesken Formen, was die intellektuellen Nationalisten, deren führende Köpfe zu jener Zeit etwa Ernst Jünger oder Oswald Spengler waren, dazu brachte, sich von den "Runenraunern und Rasserasslern", wie die Gruppierungen von Ernst von Salomon einmal spöttisch bezeichnet worden waren, zu distanzieren. Andere "Führer" hatten hier weniger Berührungsängste und so versammelte Adolf Hitler unter der nationalsozialistischen Fahne alle Kräfte und Gruppierungen, derer er habhaft werden konnte. Was sich bis 1933 nicht mehr oder weniger freiwillig anschloß, wurde nach der Machtergreifung unter Zwang gleich- oder ausgeschaltet. Über die Verwendung von Zeichen und Symbolen durch die Nationalsozialisten mag man aus den verschiedensten Beweggründen geteilter Meinung sein, eines jedoch steht fest: Unter der zwölfjährigen Herrschaft des Hakenkreuzes erfuhren die Runen, besonders wegen der Verwendung durch Himmlers Schutz-Staffel, eine nachhaltigere Interpretation als durch die 400-jährige Betriebsamkeit ganzer Scharen von Esoterikern. Während des deutschen Nationalsozialismus' ließ sich außerdem ein ähnliches Phänomen wie zur schwedischen Großmachtzeit beobachten. Die zur Macht gekommenen Nationalsozialisten wollten und mußten ihre Machtansprüche kulturell und wissenschaftlich untermauern. Neben ideologischen und geopolitischen Themen betraf das natürlich vor allem rassekundliche und kulturhistorische Gebiete. Aus diesem Grund beschäftigten sie Heere von Geisteswissenschaftlern, welche in staatlichen und halbstaatlichen Institutionen wie z.B. dem "Ahnenerbe" der SS möglichen und unmöglichen Thesen nachhingen und nachgingen.

Über den Wert ihrer Arbeit ist viel und leidenschaftlich diskutiert worden, aber es läßt sich behaupten, daß in jenen Jahren neben vielen Irrungen auch durchaus ernstzunehmende und wichtige Werke zur Runenkunde entstanden. Stellvertretend sei an dieser Stelle der Name Helmut Arntz genannt, dem das Handbuch der Runenkunde (1935) und die Bibliographie zur Runenkunde (1937) zu verdanken sind. Nebenbei sei erwähnt, daß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einschließlich der Kriegszeit die wichtigsten Kataloge der Runendenkmäler von schwedischen und dänischen Wissenschaftlern erstellt wurden. Heute stellen diese Runenwerke ein unverzichtbares Mittel zur wissenschaftlichen Arbeit dar. An dieser Stelle wird auch eine andere Seite der Arbeiten von Bureus und seinen Nachfolgern offenkundig, denn mit ihren frühen Aufzeichnungen haben sie nicht wenige inzwischen verlorene bzw. zerstörte Runendenkmäler vor dem Vergessen gerettet. Die Verknüpfung von Runen und Nazis war auch mit dem Untergang der letzteren nicht zu lösen. Gemeinsam mit dem Nationalsozialismus fielen sie einer allgemeinen Verdammnis anheim, so daß es sogar dazu kam, daß Wissenschaftler, die sich aufgrund ihres Faches mit den Runen beschäftigten, sich den Vorwurf anhören mußten, zu den ewig Gestrigen zu gehören. Die Zäsur im Umgang mit den Runen, welche die Nachkriegszeit mit sich brachte, hätte der Anlaß sein können, Tradition und Interpretation der alten germanischen Schriftzeichen aufzuarbeiten und das alte Interpretationsgewirr aufzulösen. Von rein wissenschaftlichen Arbeiten abgesehen, wurden aber erst in den letzten Jahrzehnten wieder Bemühungen spürbar, sich den Runen und der germanischen Vergangenheit auf einer geistigen Ebene zu nähern. Hierbei sind vor allem künstlerische Versuche zu begrüßen, die sich nicht von früheren Interpretationen beeinflussen lassen, sondern ihr Ziel auf die eigentliche Tradition richten.

Eine Art geistige Grundfreilegung, wie sie Martin Heidegger im philosophischen Sinn vorschwebte, ist unbedingt notwendig, um zu einer Interpretation zu gelangen, die der Tradition nahekommt. Auch wenn dabei Wege gegangen werden, die sich einer rationalen Betrachtung entziehen, können wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse durchaus von Nutzen sein. Auf allen wandelbaren Pfaden sollte man aber bedenken, daß "sich Götter nicht exhumieren lassen", wie Ernst Jünger einmal so schön geschrieben hat und jede noch so nahe an der Tradition liegende Interpretation auch immer eine solche bleibt. In diesem Sinne sind auch wissenschaftliche Erklärungen nur Interpretationen, wenn auch oft zwingend einleuchtende. Bei allem ausschließenden Anspruch, den die Wissenschaft an solche geistigen Themen stellt, wird sie nie alles bis ins kleinste klären können. Auch sie kann sich der Tradition nur annähern, sie bestenfalls beschreiben, aber niemals wieder zum Leben erwecken. Eine vielschichtige geistige Durchdringung solcher Phänomene bleibt Zeitgenossen vorbehalten, die zwar den rationalen Weg als den vom Zeitgeist bevorzugten sehen und auch gehen, aber wissen oder ahnen, daß viele Wege nach Rom führen. Alles ist möglich, und jede unbewiesene Theorie über den Ursprung der Runen ist inhaltlich genauso gut oder schlecht wie das visionäre Gedicht Hávamál aus der altisländischen Edda, worin zu lesen ist, daß die Runen von dem am Baum hängenden Odin empfangen wurden. In literarischer Hinsicht ist diese Version ohnehin zu bevorzugen.