Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein großes Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. (Novalis)


Katharsis durch Musik
Antje N.

0. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit dem Begriff der Katharsis bei Aristoteles auseinandersetzen. Insbesondere interessiert mich seine Auffassung von der reinigenden Kraft der Musik, denn sie ist eine mächtige Kunstform, deren Wirkung auch (oder gerade) dem Menschen heutiger Zeit nicht verschlossen bleibt. Somit versuche ich die Gegenwartsbezogenheit der aristotelischen Lehre darzulegen.

In seiner Schrift Poetik befaßt sich Aristoteles mit der bildenden Kunst, hauptsächlich der Dichtung, sowie ihrem Zweck. Näher auf die Musik geht er im achten Buch der Abhandlung Politik ein. Diese beiden waren meine vorrangigen Literaturquellen, beim Lesen der genannten Texte habe ich jedoch bemerkt, daß es kaum ausreicht, sich auf selbige zu beschränken. Eine umfassende Kenntnis über die Denkweise des Philosophen im Allgemeinen sowie meinem Thema im Besonderen kann ich nur gewinnen, wenn ich auch andere Schriften hinzuziehe. Aristoteles selbst verweist den Leser oft von Text zu Text innerhalb seines Schaffens. So erlebe ich gleich am eigenen Leib eine seiner wichtigsten Theorien, des Universellen, treffend wiedergegeben von H.Seidel: "Die Erkenntnis der Ursache, des Allgemeinen des Wesens, kann nur über die Erkenntnis der einzelnen Dinge, ihrer Erscheinungen und Wirkungen erlangt werden, existiert doch das Allgemeine nie losgelöst vom Einzelnen..."(1)

I. Hauptteil

1. Geschichtliche Anmerkungen

Zunächst möchte ich den Begriff 'Katharsis' allgemein erläutern. Das Wort kommt vom griechischen 'katarein', was mit 'säubern' übersetzt werden kann.

Eine Reinigung des Menschen gibt es im Bereich des stofflichen Körpers (wovon schon Hippokrates von Kos sprach, der als 'Vater der Heilkunde' bezeichnet wird), aber auch im Bereich der Seele (dazu mehr im weiteren Verlauf). Katharsis ist Hygiene, das heißt physische und psychische Gesundheitspflege. Ein weiterer Aspekt, und damit vermutlich der höhere Sinn all dessen, erschließt sich im Hinblick auf die Religion. Hier beinhaltet es eine Läuterung von menschlichen Leidenschaften mit dem Ziel, gottgleich zu werden.

Wie jedoch wirkt Katharsis und durch was? "Dieser Terminus erscheint schon früh im Zusammenhang mit der Kunst und hält sich dauernd in der Kunsttheorie der Griechen."(2) Gemeint ist die bildende Kunst (nicht die technische) als das vielschichtige Ausdrucksmittel der menschlichen Seele. Denn einerseits entspannt sich selbige, wenn man den vielen, oft konträren Gedanken und Gefühlen eine äußere Form geben kann, um sich so von ihnen zu lösen. Andererseits hat man als 'Kunstkonsument' ebenfalls die Möglichkeit, durch Nachempfinden und Vergleichen mit der eigenen Erfahrung seine Innenwelt zu erleben und auszuleben.


1.a.) Die Wurzeln des antiken Theaters

Aristoteles erwähnt Katharsis in Verbindung mit zwei speziellen Kunstformen: der Dichtung (Tragödie, Komödie) und der Musik. Beide haben gemeinsame Wurzeln in Theateraufführungen, die sich aus religiösen Kulten entwickelten. Darauf möchte ich kurz eingehen, denn es ermöglicht vielleicht ein besseres Eintauchen in das Kunstverständnis der alten Griechen, der Zeitgenossen Aristoteles'.

Die Menschen der Urgesellschaft personifizierten die Naturkräfte, um sie als Götter durch Gesänge und Tänze anzurufen. In diesen Ritualen liegen die Keime des Theaterspiels. Das Theater der alten Griechen entstand aus dem Dionysoskult und blieb lange an ihn gebunden. Die alljährlichen Feste und Umzüge zu Ehren des Gottes der Fruchtbarkeit (auch Schutzherr des Weinbaus) waren Anlaß für sportliche Wettkämpfe und musikalisch-theatralische Darbietungen. Der Mensch begann seine Person sowie das menschliche Zusammenleben nachzuahmen. Bei solchen Aufführungen wetteiferten die Dichter der Stücke - es waren jetzt Handlungsabläufe mit Anfang und Ende - um eine Ziege.

Es wurden riesige Theaterbauten errichtet, was den großen Stellenwert und fundamentalen Charakter dieser Vorgänge beweist, deren gemeinschaftliches Erleben gewiß enorme seelentherapeutische Wirkung hatte. "Schon die Alten wußten, daß Gesang und Musik von den einen dann geübt werden, wenn sie in guter Stimmung sind, von den anderen bei Melancholie und Trauer, wieder von anderen bei göttlicher Verfallenheit und religiöser Verzückung"(3), berichtete Aristides Quintilianus später.

Die anfängliche Einheit von Tanz, Musik und Dichtung löste sich nur langsam auf. Von dem Athener Thespis berichten die Geschichtsbücher, er habe 534 v.Ch. dem Chor, der üblicherweise zum Dionysosfest singend und tanzend durch die Straßen zog, zum ersten Male einen Solisten, einen Sprecher gegenübergestellt. Damit begründete er die Tragödie. Das Wort setzt sich aus 'tragos' (=Ziegenbock) und 'ode' (=Lied) zusammen. Lied der Ziegenböcke - das verweist auf die kultische Herkunft. Die Gefolgschaft des Dionysos wurde von ziegenfüßigen Satyren gebildet. Aischylos, einer der großen griechischen Tragödiendichter, führte einen zweiten 'Schauspieler' ein. So schuf er den dramatischen Dialog (=Gespräch), ein Kennzeichen, durch welches sich die Tragödien und Komödien von anderen Literaturformen unterscheiden. Als Sophokles dann einen dritten Schauspieler einführte, sollte nur noch etwa ein Jahrhundert vergehen, bis Aristoteles seine Poetik verfaßte.


1.b.) Stellenwert der Musik im antiken Griechenland

Die Texte einer Aufführung wurden nicht einfach gesprochen, sondern chorisch behandelt und durch Instrumente musikalisch unterlegt. Musik (=musiké, griech.) leitet sich von den Musen her (in der griechischen Mythologie die Beschützerinnen der Künste) und bezeichnete einstmals zusammenfassend die Ton-, Dicht- und Tanzkunst. Erst später reduzierte sich der Inhalt des Wortes auf erstgenanntes. Aus dem bisher gesagten läßt sich vermuten, daß die menschliche Stimme das Hauptwerkzeug musikalischen Ausdrucks war, insbesondere bei Theaterdarbietungen. "Die griechischen Musikinstrumente waren leise, nicht sehr klangvoll und wenig effektvoll - kein Wunder, da sie ja lange ausschließlich der Begleitung dienten."(4)

Die Auswahl an Instrumenten zur Tonerzeugung war nicht sehr groß. Die antiken Griechen bedienten sich einerseits der Zupfinstrumente, namentlich Lyra oder Kithara, andererseits dem Blasinstrument 'Aulos', einer Art Flöte. Beide Instrumentarten unterscheiden sich in ihrer Wirkung, deshalb waren die Gelegenheiten, bei denen sie zum Einsatz kamen, auch jeweils andere. Das ruhig verhaltene Kitharaspiel, welches wohl als intellektuell anspruchsvoller galt, war Bestandteil des edel gesinnten Zeitvertreibens und vielleicht auch bei ernsten Opferdiensten sowie Prozessionen.

Weltliche Feste, bei denen auch viel Wein floß, waren den Flöten vorbehalten, denn ihr Spiel ist wild und leidenschaftlich. Es brachte das Instinkthafte im Menschen zum erklingen, berauschte die Sinne. Flötenmusik und Wein waren entscheidende Bestandteile des Dionysoskultes. Die Lyra hingegen wurde bei Kulthandlungen zu Ehren des Apollon gezupft. Dieser Gott repräsentierte die geistige Macht von Ordnung, Maß und Harmonie. Hier zeigt sich also schon der Gegensatz zwischen zwei Wesensarten der Musik und mitführend deren unterschiedliche Wirkung - auch in bezug auf reinigende Effekte, der Katharsis. Einerseits kann sie dem Triebhaften, andererseits dem Vernunftbegabten im Menschen gerecht werden.

Rhythmus und Melodie sind die beiden Dinge, die Musik ausmachen. Den Griechen kam es besonders auf Erstgenanntes an. "All das Seiende findet sich in Bewegung: das Maß der Bewegung wird Rhythmus genannt."(5) Alles Leben ist im Rhythmus begriffen, der Herzschlag, Tag und Nacht, die Jahreszeiten, Mondphasen..., so viele Beispiele bezeugen es. In dieser steten Wiederkehr von Wechselwirkungen liegt etwas Ewiges. Vielleicht kann Musik uns durch ihre Rhythmik einen Hauch von Göttlichkeit vermitteln, also "all das Seiende".

Als einen letzten wichtigen Punkt zur Vorgeschichte erachte ich die Musiktheorie der Pythagoreer (5. Jh.v.Ch.), die vor allem eines besagt: "Musik ist eine Macht, die an der Seele rührt."(6) Indem sie die seelenbeeinflussende Kraft der Musik aufzeigen, bringen sie deren erzieherischen Wert zur Sprache. Damit gingen sie Aristoteles voran. Die pythagoreische Lehre besagt weiterhin: Musik ist dem Menschen von Natur aus gegeben (durch Rhythmus) und ihr Zweck sei die psychische Reinigung. Was sich hier sehr emotional anhört, hat seinen Ansatzpunkt in der klar-mathematischen Weltsicht der Pythagoreer, die von Zahlen, Proportionen und Maß geprägt war. Demzufolge ist ihrer Meinung nach auch die Kunst, insbesondere die Musik, der inneren Gesetzmäßigkeit der Ordnung verpflichtet. Mit Augenschein auf mein Thema möchte ich W.Tarakiewicz zitieren: "...die Musik in Griechenland ... wurde, anders als alle anderen [Künste/Anmerk. d. Verf.], als einzig expressive, als einzig heilende, als solche, die auch wissenschaftliche Aufgaben hatte, weil sie die Gesetze, die die Welt regieren, enthülle, die aber auch moralische ... und ... ästhetische Bedeutung hatte."(7)


2. Die Katharsislehre des Aristoteles

2.a.) Die Kunstauffassung des Philosophen

Die pythagoreische Musiktheorie beschrieb eine allumfassende Zweckdienlichkeit, weshalb sie im antiken Griechenland Anklang und Verbreitung fand. Damit führe ich hin zum Universaldenker Aristoteles. Mit der bildenden Kunst beschäftigte sich der Philosoph eingehend im Werk Poetik, denn anders als die wörtliche Übersetzung 'über die Dichtkunst' vermuten läßt, ist es durchaus allgemeiner zu verstehen. So finden auch Malerei, Tanz und Musik Erwähnung. Die zentrale Aussage dieser Schrift ist der Begriff 'Mimesis' - die nachahmende Kunst. Das bedeutet aber nicht, daß Nachahmung bloßes Abbilden der sichtbaren Realität sein soll. Sie ist nur ein Mittel, dessen sich die Kunst bedient.

Eingangs war die Rede vom Allgemeinen, welches sich vom Einzelnen herleitet. Ein Kunstwerk ist der Zusammenschluß der Merkmale individueller Dinge zum Universellen, indem sich der gemeinsame Charakter offenbart. Auf das Wesentliche reduziert, findet es so seinen Ausdruck. Aber es kann nur eine Möglichkeit sein, dem Wahren Form zu geben, denn es geschieht aus der subjektiven Sicht des Künstlers heraus. Er ist, um dieser Erkenntnis willen, für Aristoteles jemand, der Einblick in das wahrhafte Sein hat und aus diesem Grund großen Stellenwert bei ihm genießt. Eine Textstelle in der Poetik lautet: "...Dichtung ist etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit."(8) Anstelle des Wortes 'Dichtung' könnte ich hier auch 'Komposition' einsetzen, von Farben oder Klängen. Kunst ist für Aristoteles durchaus etwas Positives, und diese Einstellung beeinflußt sicher auch seinen Standpunkt gegenüber ihrem Zweck. Da sie Eingang in die menschliche Psyche findet, kann sie deren Zustand beeinflussen. Darin liegt Gutes, doch auch Gefahrvolles. Deshalb empfiehlt er bestimmte Regeln der richtigen Komposition, des Rhythmus', des Maßes, die zu beachten sind, vor allem wenn Katharsis das Ziel ist.


2.b.) Die Wirkung der Tragödie

Der Philosoph schrieb besonders der Tragödie und der Musik reinigende Kraft zu. Deren Weg zur menschlichen Seele, führt über die sinnliche Wahrnehmung. An dieser Stelle möchte ich Oskar Wilde zitieren: "Ja, das ist eines der Geheimnisse des Lebens, die Seele durch die Sinne heilen können und die Sinne durch die Seele."(9)

Wie spielt sich dies ab? Wenn ein Mensch der Aufführung einer Tragödie beiwohnt, voll und ganz im Geschehen integriert ist, vergißt er die Welt um sich und die Handlung auf der Bühne wird zur Realität. Der Zuschauer erlebt, was die tragischen Helden erleben. Er leidet mit ihnen. Er projiziert seine eigenen Empfindungen und Probleme auf die Bühnengestalten. So kann z. B. Selbstmitleid eine Steigerung finden und sich endlich auflösen. Da der Drang zur Nachahmung jedem Lebewesen angeboren ist, liegt sicher auch das Nachempfinden und Mitleiden in der Natur des Menschen. Die Tragödie soll darauf zielen, bestimmte psychische Zustände, das wären "Jammer und Schauder", zu erregen. "Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen."(10) Der Dichter soll also durch sein Werk bestimmte Reaktionen im Zuschauer wachrütteln, damit selbiger sich auf ungefahrvolle Weise (kontrolliert im Rahmen der Aufführung, gebunden an den Handlungsablauf) von solchen Leidenschaften befreien kann. Im Nachwort zur Poesis wird von einer "...entgegengesetzten Wirkmechanik..." der Dichtung gesprochen, sie "...steckt nicht an, sondern impft."(11) Es ist sozusagen wie das Auslöschen von Krankheitserregern durch sich selbst.

Unterdrückte Leidenschaften brechen irgendwann hervor, mit verstärkter Kraft. Katharsis beugt dem vor, weil sie von einem Übermaß an Affekten befreit. Indem man sie unter Kontrolle bringt, kann man mit bzw. an ihnen wachsen. Schließlich sind sie der Natur des Menschen eigen. Wer mit ihnen umzugehen weiß, kann sie zu seinem Vorteil nutzen. Zur Veranschaulichung möchte ich ein kleines Beispiel aufzeigen. Wenn ich wütend bin, ist alles in mir sehr angespannt. Es werden große Energien frei, die sich körperlich entladen müssen. Entweder schlucke ich die Wut hinunter, was Magenschmerzen verursacht, also mir selbst schadet, oder ich lasse den Gefühlen freien Lauf und meine Kräfte sinnlos walten, indem ich meiner Umwelt zerstörerisch begegne. In diesem destruktiven Verhalten liegt die Gefahr, die es zu unterbinden gilt. Eine dritte Möglichkeit ist die, meine Energien sinnvoll zu nutzen. Ich könnte beispielsweise Holz hacken und mich danach unglaublich erleichtert fühlen, mit der Gewißheit, etwas Nützliches getan zu haben. Wenn dies im Rahmen der Theateraufführung geschieht (um wieder allgemeiner zu werden), kann somit die Tragödie Alltagsprobleme vorweggreifen und man geht ruhig, entspannt nach Hause.


2.c.) Wert der Musik

Ich komme nun zur Musik und deren Zweck, aus Sicht des Philosophen. Aristoteles äußert sich über dieses Thema genauer im 8. Buch der Schrift Politik.

Musik und Politik - was für eine Verbindung gibt es da? Davon ausgehend, daß der Mensch naturgegebenermaßen ein gemeinschaftliches Wesen ist, führt er durch eine Reihe von Argumentationsketten (die zu erörtern den Rahmen meiner Arbeit sprengen würde) hin zur Musik als Mittel der Erziehung. Wie auch in der Poetik werden hier einige Begriffe genannt, deren Definitionen in anderen Abhandlungen des Aristoteles zu finden sind. Beispielsweise nennt er als ein Ziel der Erziehung junger Menschen (männlichen Geschlechts!) die Tugend. Der Weg zu ihr führt abermals über die Seele, da sie als eine Eigenschaft selbiger gilt. Im Hinblick auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Familie, Ortsverband und schließlich dem Staat, muß sie eine Grundvoraussetzung sein. Aristoteles sieht das als besten Garant für Gemeinwohl und Beständigkeit einer Gesellschaftsform. Demzufolge muß die Tugend auch von frühester Jugend anerzogen werden, so besagt es die Politik. Man sollte wissen, daß er die Tugend "...nach Wert und gültiger Leistung ... auf höchster Warte"(12) eingliederte, um erkennen zu können, welche Verantwortung er der musikalisch-künstlerischen Bildung zukommen ließ. Am Anfang seiner Abhandlung über Erziehung stellt sich die Frage, ob Musik Bestandteil des Lehrplans sein sollte. Aristoteles ist dafür und beruft sich dabei auf die "Altvorderen"(13), mit denen er vermutlich die Pythagoreer (oder deren Anhänger) meinte. Weiter heißt es, daß es wichtig sei, "...sittlich richtig Muse zu pflegen. Denn dies ist das Prinzip von allem."(14), wobei er die Seele als die Lebensquelle ansah. Allein die Beschäftigung mit der Musik birgt in sich schon Freude und Erfüllung - eine wichtige Aussage seiner Musikabhandlung.


2.d.) Wirkung der Musik

Nun spricht Aristoteles der Musik die Macht zu, Gutes im Menschen zu bewirken. Sie kann Freude vermitteln, damit zur Glückseligkeit beitragen, aber auch gegenteiliges bewirken. Sie vermag in unterschiedlicher Weise auf die Psyche einzuwirken, mit einem jeweils unterschiedlichen Zweck.

Einerseits geschieht dies ähnlich dem reinigenden Prinzip der Tragödie. Durch eine bestimmte Art von Melodien und Rhythmen werden Regungen der Seele angeschlagen und zum Erklingen gebracht. Trauer zum Beispiel, könnte ich ausleben, indem ich melancholische Musik höre. Ich verstärke dabei diese Empfindung bewußt und bringe sie zu einem Höhepunkt. Danach ebbt dieses, mich beherrschende Gefühl schnell ab, ein angenehmer Erschöpfungszustand zeigt die Befreiung oder Entspannung an. Bei diesem Prozeß muß ich mich an die Richtschnur des Rhythmus' halten, somit ist es ein vorhersehbarer und deshalb kontrollierter Vorgang.

Aristoteles nennt diesen höchsten Ausschlag des Emotionspegels 'Peripetie'. Es beinhaltet gleichzeitig den "...Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil..."(15) So kann man auch mit vielen anderen Gemütsregungen, wie Zorn oder Euphorie verfahren. Er hat den Einfluß von Tönen auf den Seelenzustand der Menschen sehr genau beobachtet. Seine Erkenntnis daraus war, daß Tonkunst einen Ausgleich im Empfinden schaffen und in dieser Form helfen kann, den Weg zur Mitte zurückzugehen: "...ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mitte hingegen sie erhält ... sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab."(16) Das richtige Mittelmaß in allen Lebensangelegenheiten zu erstreben, ist für den Philosophen von größter Bedeutung. Aus ethischen Gesichtspunkten ist die Katharsis durch Musik also würdig genug und musikalische Bildung eine geeignete Erziehungsmaßnahme.

Andererseits gab man sich schon damals der Musik hin, um sich schlicht und einfach zu erholen. Deshalb sollte sie zwar nicht unmittelbarer Erziehungsgegenstand sein, jedoch im Leben nicht fehlen. Weil die "gelassenen" Tonarten der Entspannung dienlich sind, können sie Krämpfen jeglicher Art, sowie deren Folgen vorbeugend begegnen. Ich denke, dies entspricht ebenfalls dem Sinn einer Reinigung. "Sie bedeutet ja eine Art Heilung des Leides, das aus Anstrengung kommt."(17) Da der Mensch keine Maschine ist, braucht er diese Erholungsphasen in regelmäßigen, maßvollen Abständen. Das betrifft sowohl körperliche, als auch geistige Tätigkeiten. Bewegung und Ruhe im Wechsel - ein von der Natur gegebener Rhythmus, dessen Aufrechterhaltung notwendig für das Wohlbefinden ist.

Aristoteles erwähnt, neben moralisch-wertvollen (dorischen) und erholsamen (gelassenen) Tonarten, eine dritte. Ihr spricht er zwar das edle Gesinnen ab, nicht jedoch das reinigende Wesen. Es ist die Tonart, welche im Dionysoskult verwurzelt ist. Die Musik des ausgelassenen Tanzes, des leidenschaftlichen Flötenspiels, die, welche "...orgiastischen Taumel und die Affekte betrifft..."(18) und "...zur Feier von Orgien gehört."(19) Hier ist Katharsis nicht Mittel zum Zweck (Bildung der Vernunft durch Reinigung vom Triebhaften), sondern Ziel. Der Höhepunkt soll erreicht werden, dieser kurze Moment der Ekstase. Der Philosoph schreibt, "...daß man von ihr nur im Hinblick auf derartige Zeitaugenblicke Gebrauch machen soll, in denen das Verfolgen einer Aufführung in höherem Grade eine Reinigung als ein Lernen bedeutet."(20) Das dabei die Flöte eine tragende Rolle spielt, sehe ich nicht nur als Beweis für die Abstammung von den Dionysyen. "Das Flötenspiel verhindert gleichzeitig den Gebrauch des Wortes."(21) Dieser Umstand bezeichnet vielleicht die Tatsache, daß Sprache hier gar nicht erwünscht ist. Sie repräsentiert den Verstand, ist Kennzeichen und Folge des Denkens. Doch genau das soll durch einen Appell an die Instinkte ausgeschaltet werden.

Der anzunehmende kultisch-religiöse Hintergrund dieser 'enthusiastischen' Musik, wie Aristoteles sie nennt, offenbart nun die Absicht. Die Wahrheit wird nicht in der äußeren Realität gesucht, sondern im inneren Selbst, in der Seele. Das reine Fühlen wird erstrebt, losgelöst von Wünschen, Hoffnungen und Enttäuschungen, vom aufgesetzten Schein.

"By a repetition of rhythm
You're becoming an element of sound
Being only vibration
The unconscious is penetrating into your consciousness
Shattered thought, melted by emotions
Now you feel the power of the beat
Retain you to the earth
Swinging to the rhythm of your heart
A unity with all elements and every existence will be gained."(22)

Eine Wahrheit, die von innen her kommt, wird erfühlt, weil man einen Zustand besonderer Wahrnehmung erreicht hat.


II. Schlussteil

1. Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß für Aristoteles die Kunst große Bedeutung hatte. Sie veranlaßt den Menschen, sich mit seinem Wesen und seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Die Musik, als eine ihrer Gattungen, kann Freude vermitteln, Pufferzone für negative Empfindungen sein, Erinnerung, Erkenntnis, sowie Vergessen bewirken. Sie ist "...edler Zeitvertreib, der das Angenehme mit dem Moralisch-Schönen verbindet."(23) Dies geschieht vor allem durch die Katharsis, was Reinigung von möglichen, seelenbedingten Hindernissen auf dem Weg zum Ziel - des 'wahrhaft glücklich seins' - bedeutet. Katharsis durch Musik ist eine vorbeugende Maßnahme, was psychische Erregungen und deren eventuellen, negativen Einfluß auf die seelischen und körperlichen Zustände eines Menschen betrifft. Letztendlich tut es nicht nur dem individuellen Wohlbefinden gut, sondern der Gemeinschaft, denn gesunde, edel gesinnte Bürger (in diesem Fall die Männer), sind Voraussetzung für eine gut funktionierende Staatsform.

Was bisher gesagt wurde, bezieht sich auf das Zuhören musikalischer Darbietungen. Die Musikinstrumente sind aber nur Werkzeuge zur Bildung von Klängen, deren Ursache ein Mensch ist. Das war für Aristoteles ein Problem, weil seiner Meinung nach die Gefahr besteht, der Musizierende werde zum bloßen Handwerker. Heutzutage kann man das nicht mehr so richtig nachvollziehen und was mein Thema, die Katharsis, betrifft, so ist das Hervorbringen von Tonkunst vielleicht noch befriedigender, als sie "nur" passiv zu genießen. Die Tätigkeit des Instrumentespielens als unwürdig zu bezeichnen, geht auf die gesellschaftliche Situation seiner Lebzeit zurück. Ich kann für dererlei Aussagen nur insofern Verständnis aufbringen, daß, wenn "...ein Künstler Rücksicht auf den Veranstaltungsteilnehmer nimmt..."(24), die Qualität leiden kann. Denn wenn Kunst nicht mehr um ihrer Selbst willen entsteht, aus materiellen Zwecken dargeboten wird, bedeutet dies ja eine Rückentwicklung, hin zu Machthunger, Eitelkeit, Geldgier... Und die Katharsis hätte ihren Sinn verfehlt.


2. Schlusswort

Daraus schlußfolgere ich, daß sich die Kunst niemandem offenbart, der es nicht ehrlich mit ihr meint. Aber wenn er es tut, dann ist sie ein Geschenk, für mich das schönste, was ein Mensch einem anderen machen kann. Die Musik ist etwas Besonderes. Schon immer war sie Mittel, um Stimmungen auszudrücken, um sich von seelischen Qualen zu befreien, um Ruhe zu finden, um sich unter Kontrolle zu bringen. Sie kann Gefühle schüren oder binden, wirkt manipulierend auf die menschliche Psyche - sie hat große Macht. Musik ist Teil unseres Lebens. Deshalb war auch sie Gegenstand der philosophischen Betrachtungen des Aristoteles.


III. Anhang

1. Zitatangaben

(1) Seidel, S.21
(2) Tatarkiewicz, S.36
(3) Tatarkiewicz, S.36
(4) ders., S.39
(5) Grassi, S.111
(6) Tatarkiewicz, S.107
(7) ders., S.110
(8) Aristoteles, [1451a-1451]
(9) Wilde, S.88
(10) Aristoteles, [1452b-1453a]
(11) Fuhrmann, S.161
(12) Aristoteles, [1106b 27-1107a 14]
(13) ders., [1337b-1338a]
(14) ders, ebd.
(15) Aristoteles, [1452a-1452b]
(16) ders., [1106b 3-27]
(17) ders., [1339b-1340a]
(18) Aristoteles, [1342a-1342b]
(19) ders., [1341a-1341b]
(20) ders., ebd.
(21) ders., ebd.
(22) Payer, S.1 bzw. S.14
(23) Tatarkiewicz, S.180
(24) Aristoteles, [1341b-1342a]


2. Literaturverzeichnis

1. Aristoteles: "Nikromachische Ethik" hg. v. Dirlmeier, Franz; Stuttgart, 1996.
2. Aristoteles: "Poetik" hg. v. Fuhrmann, Manfred; Stuttgart, 1982.
3. Aristoteles: "Politik. Schriften zur Staatslehre" hg. v. Schwarz, Franz F.; Stuttgart, 1989.
4. Grassi, Ernesto: "Die Theorie des Schönen in der Antike"; Köln, 1962.
5. Payer, Norbert: "Drainage" hg. v. Rosengracht; Kirchberg, 1991.
6. Seidel, Helmut: " Aristoteles und der Ausgang der antiken Philosophie"; Berlin, 1988.
7. Tatarkiewicz, Wladyslaw: "Geschichte der Ästhetik. I. Die Ästhetik der Antike"; Basel/Stuttgart, 1979.
8. Wilde, Oskar: "Extravagante Gedanken" hg. v. Kraus, Wolfgang; Zürich, 1988.